Vatertag

©Achim Lerch 2006

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Vatertag – oder vom Sinn des Lebens (de.rec.motorrad am 28. Mai 2006)

Mit einem Bollerwagen voll Alkoholika gröhlend durch´s Unterholz zu ziehen, das ist nicht so mein Ding. Deswegen verbringe ich den Vatertag traditionell lieber mit Sohn und Krad auf einem Motorradtreffen, welches eben just an diesem Himmelfahrtswochenende stattfindet. Für _dieses_ Wochenende war nun allerdings die Wetterprognose alles andere als sonnig, also kam neben den üblichen Campingutensilien auch reichlich Lektüre in den Seitenkoffer: Mark Twains Huckleberry Finn für Sohnemann, die Stoiker Seneca und Marc Aurel für den Papa - wie ließe sich schließlich ein verregnetes Wochenende im Schlamm besser ertragen als mit stoischer Gelassenheit?

Nun sind Marc Aurels Selbstbetrachtungen zwar ein vielgerühmtes und durchaus lesenswertes Stück Weltliteratur, aber wirklich verdaulich sind sie nur, wenn man zwischendurch etwas Ablenkung hat. Auf einem Motorradtreffen kein Problem, bieten sich doch reichlich Gelegenheiten zu anregenden Benzingesprächen. Und mal ehrlich: was sind Aurels Tugendlehren im Vergleich zu der gut erzählten Geschichte einer Tour zur Toutist Trophy auf der Isle of Man - im Jahr 1974 mit einer BMW R 50? (Einer meiner unerfüllten Träume: einmal zur Isle of Man, aber ob es dort jemals wieder so sein wird, wie in den 70ern?). Oder die Erklärung von Fiddi - dem 70jährigen Fahrer einer 30 Jahre alten Königswellen-Ducati, den ich schon vor zwei Wochen traf - dafür, dass er seine zweite, neue Ducati (eine 916er) jüngst wieder verkauft hat (die Vortriebscharakteristik passe einfach nicht mehr zu seinen Reflexen)? Zwischendurch kann man dann Sohnemann (und die anderen Kinder, es waren viele Gespann fahrende Familien da) dabei beobachten, wie sie sorglos und ohne dem Dauerregen auch nur Beachtung zu schenken (also in wahrhaft stoischer Ignoranz der äußeren Umstände) in ihr unschuldiges Spiel ebenso vertieft sind wie im reinsten Wortsinne bis zu den Knien in die diversen, im Laufe der Zeit sowohl zahlreicher wie tiefer werdenden Pfützen. Schiller kommt mir in den Sinn: der Mensch ist nur da ganz Mensch, wo er spielt.

Und dann lese ich - nicht bei Seneca und auch nicht bei Aurel, sondern bei einem "modernen" Philosophen namens Moritz Schlick (1882-1927) - über den "Sinn des Lebens" etwas, das dazu erstens genau passt, und das zweitens völlig on topic ist, wie sich gleich erweisen wird: Dass wir den Sinn des Lebens nicht in irgendwelchen Zwecken suchen dürfen, sondern nur "in solchen Zuständen (...), die um ihrer selbst willen da sind, die ihre Erfüllung in sich selbst tragen". Um dem Schopenhauer´schen Wechselspiel zwischen Not und Langeweile zu entkommen müssen wir, so Schlick, nach solchen "Tätigkeiten suchen, die ihren Zweck und Wert in sich tragen, unabhängig von allen Zielen außerhalb ihrer". Und weiter: "Solche Tätigkeiten gibt es wirklich. Wir müssen sie folgerichtig Spiel nennen, denn das ist der Name für freies, zweckloses, das heißt in Wahrheit den Zweck in sich selbst tragendes Handeln". Und würde denn hier jemand anzweifeln, dass das zwecklose Spiel mit dem Gasgriff eines Motorrades eindeutig zu diesen Tätigkeiten zählt? Ich hab´s ja (wenn auch mit einem Augenzwinkern) schon immer gesagt: Ich fahre, also bin ich!


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